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Text: Christoph Schilling
«Verdingkinder» wurden ihren Eltern von der Waisen- oder Armenbehörde
weggenommen und gegen eine Entschädigung («Kostgeld») bei einer Familie
in Pflege gegeben. Das waren meist Bauernfamilien. Oft war nicht Liebe
gegenüber verwahrlosten Kindern das Motiv zur Aufnahme, sondern der
Wunsch nach billigen Arbeitskräften. Geläufig waren auch die
Bezeichnungen «Kostkind» und «Güterkind».
Ein besonders krasser Fall erschütterte im Februar 1945 die Schweiz: das Verdingkind von Frutigen. Dokumente zur Thematik Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Fremdplatzierung, Kindswegnahmen, Erziehungsanstalten
Schweizerischer Beobachter Nr. 22, 28. Oktober 2004
Verdingkinder
«Du chasch nüüt, du bisch nüüt, us dir gits nüüt»
Auf einen Bauernhof abgeschoben, gequält und missbraucht: das Schicksal von
Verdingkindern, wie es in der Schweiz tausendfach vorkam. Jetzt
versammeln sich Betroffene für einen Kongress und verlangen vor allem
eins: dass man ihnen endlich zuhört.
Er dachte, er wäre
nun stark genug. Doch Alfred Ryter hielt nicht stand. Er brach seelisch
zusammen, als er vor acht Wochen zum ersten Mal nach fünfzig Jahren
wieder vor jenem Bauernhof im bernischen Frutigen stand. Seine Frau
hatte ihn noch gewarnt: Überleg es dir gut! Doch er musste da einfach
nochmals hin; zu diesem Haus, wo er jahrelang unter Heimweh, Hunger,
Schlägen und vor allem Lieblosigkeit gelitten hatte. 1948 war er als
Achtjähriger seinen Eltern weggenommen und einer fremden Bauernfamilie
zur Pflege gegeben worden. «Verdingt», wie man damals sagte.
«Es war ein Fehler, nochmals zurückzukehren», sagt Alfred Ryter heute
und fährt mit den Fingern der einen Hand über die feuchten Augen. Er
musste sich notfallmässig in psychiatrische Pflege begeben. Jetzt gehts
einigermassen. Medikamente helfen dabei.
Es fällt ihm äusserst schwer, seine Zeit als Verdingbub zu verarbeiten.
Sogar seiner Frau erzählte er erst Jahre nach der Heirat davon. Ryter
erinnert sich an Ostern 1948: Zwei Männer holten ihn ab, sein Vater
überreichte ihm eine Kartonschachtel mit seinen Kleidern. Die Mutter
war dauernd krank und oft weg zur Kur, der Vater war Rucksackbauer,
arbeitete nebenher auf dem Bau. Alleine brachte er aber die Kinder
nicht mehr durch. Die zwei Brüder von Alfred wurden ebenfalls verdingt.
Beide brachten sich später um, Hans mit 22, Rudolf mit 24. Alfred Ryter
plagen noch heute Albträume.
Er musste auf einer alten Couch im Tenn schlafen. Licht gab es keins.
Die Tür liess sich nur von aussen öffnen. Es war eher ein Kerker als
ein Kinderzimmer. Mit Säcken deckte er sich zu, um sich gegen die Kälte
zu schützen. Es sind diese einsamen dunklen Nächte, die ihn nun im
Traum heimsuchen. Manchmal sperrte ihn die Pflegemutter einen ganzen
Tag lang in der Scheune ein. Später schützte sie vor, sie habe ihn
vergessen oder gedacht, er schlafe. Noch heute hält er es kaum in
geschlossenen Räumen aus. Bis 16 war er Bettnässer. Man muss kein
Psychologe sein, um den Grund zu erahnen, sondern nur den Volksmund zu
Rate ziehen, der sagt, dass man sich vor Angst in die Hosen macht.
Auffällig viele Verdingkinder waren Bettnässer.
Das Essen war karg. «Ich hatte ständig Hunger.» Manchmal ass Ryter
Futterflocken, die für die Säue bestimmt waren. Aber nie aus dem Trog!
Diese Präzisierung ist ihm wichtig. Manchmal stahl er im Hühnerhof ein
Ei. Damit es niemand bemerkte, kaute er anschliessend ein Salbeiblatt,
um den Geruch des Eis zu überdecken. Vom Hof kannte er vor allem den
Keller, den Saustall und das Tenn. In die Bauernstube durfte er nie.
«Die Nachbarn haben weggeschaut. Nie ist jemand fragen gekommen», sagt
er heute. «Wo waren die Behörden? Der Lehrer? Der Pfarrer?» Alle hätten
sie weggeschaut.
Beinahe wäre er abgestürzt vom schmalen Grat auf dem Weg in die
Erwachsenenwelt. Alfred war eben 17 geworden, als sein Bruder sich
erhängte. «Ich wurde ein Laueri.» Er verlor den Boden unter den Füssen,
trat in kurzer Zeit über ein Dutzend Stellen an. Erst die
Rekrutenschule gab ihm Halt. Irgendwie kam Alfred Ryter immer wieder
auf die Beine. Hat sein Leben trotz allen Erschwernissen gemeistert.
Ryter ist Experte zum Thema Schlangen, hält regelmässig Vorträge über
die Reptilien. Wie kommt er auf Schlangen? Auch das seien irgendwie
«Verschupfte» – wie die Verdingkinder, sagt er.
Auch Theresia Rohr, 58, wurde in der ersten Klasse «verdingt», weil die
Familie armengenössig wurde. Ebenso ihre fünf Geschwister, von denen
sie getrennt wurde. Eine Schwester versuchte mit 18 ein erstes Mal,
sich umzubringen. Sie wurde laut Rohr von ihrem Pflegevater
vergewaltigt. Mit 20 «ging sie ins Wasser». Mit 42 brachte sich ihr
Bruder um. «Auch ich hatte immer eine Ursehnsucht», sagt Theresia Rohr
heute. Sie dachte immer, «wenn ich tot wäre, ginge es mir viel besser».
Erst viel später, mit Hilfe von Therapien, hat sie ihre Kindheit
verarbeitet. Auch sie wurde vom Pflegevater missbraucht. Theresia Rohr
ist Mitgründerin der Vereinigung «Verdingkinder suchen ihre Spur», der
über 350 Betroffene angehören. «Wir wollen den noch lebenden
Verdingkindern und ihren Nachkommen Hilfe zur Selbsthilfe anbieten.» Am
28. November veranstaltet die Gruppe im zürcherischen Glattbrugg einen
Kongress. Über 200 Zeitzeugen werden erwartet. Dort soll auch Druck
gemacht werden, damit das Thema endlich historisch aufgearbeitet wird.
Ein entsprechendes Projekt ist beim Schweizerischen Nationalfonds
bereits im März eingereicht worden. Doch die Geschichtsforscher warten
immer noch auf die Freigabe von finanziellen Mitteln. «Die Zeitzeugen,
die wir befragen wollen, sind teilweise schon sehr alt», sagt Thomas
Huonker, einer der am Projekt beteiligten Historiker. «Es eilt.»
Die ganze Kindheit gestohlen
Verdingkinder gab es in der Schweiz bis spät in die fünfziger Jahre des
20. Jahrhunderts. Es ist eines der traurigsten Kapitel der Schweizer
Geschichte. Umso erstaunlicher ist es, dass Historiker das Thema kaum
aufgearbeitet haben. Marco Leuenberger, selbst Sohn eines ehemaligen
Verdingbuben, hat es in seiner historischen Abschlussarbeit an der
Universität untersucht. Sein Befund ist deutlich: Für die Gewährung von
Unterkunft, Essen und Kleidung betrachtete der Bauer die Arbeit des
Verdingkindes als völlig berechtigte Gegenleistung. Die Bauern
erhielten von der Gemeinde des Kindes ein Kostgeld, das meist nach
dessen Alter abgestuft war. Leuenberger: «Viele Armenpflegen waren nur
darauf bedacht, ihre Armenfälle loszuwerden. Ja, es gab sogar
Gemeinden, die mit der Verdingung der Kinder noch ein Geschäft zu
machen versuchten.» Mit Menschenliebe hatte diese Art des
Pflegekindwesens wenig zu tun.
«Ich vermute, die Gemeindebehörden haben die billigsten Pflegefamilien
ausgewählt, um Kostgeld zu sparen», sagt die 75-jährige Johanna
Schmassmann, die heute in einem Altersheim bei Basel lebt. Sie kam 1939
mit zehn Jahren als Verdingkind auf einen Bauernhof in Grindelwald. Es
waren Kleinbauern mit Geissen. «Die konnten das Kostgeld gut
gebrauchen.» Sie weint leise, wenn sie von der Zeit auf dem Hof
erzählt. «Wie ein Stück Vieh hat man uns verquantet.»
Ihre Pflegemutter war böse. Wenn sie von Johannas leiblicher Mutter
sprach, dann nur abschätzig von der «Alten». Das habe ihr wehgetan.
Nicht mal ihren Söhnen hat sie Details erzählt. «Ich kann mit fremden
Menschen fast besser darüber sprechen.» Noch heute leidet sie unter
Angstattacken. Vor einer Gruppe von Leuten zu sprechen, traut sie sich
immer noch nicht. Deshalb muss im Heim jeweils jemand anders ihre
Gedichte vortragen, die auch von ihrer Verdingzeit handeln:
«Me het uns die ganzi Chindheit gschtohle
So öppis dörf sich nie wiederhole!
S schlimmscht isch gsi, dass me kei Liebi het bicho
Das goht eim s ganzi Läbe lang no!»
Wie jung die letzten Kapitel der düsteren Verdingkinderzeit sind, zeigt
der Fall von Peter Weber. Er kam 1959 als Vierjähriger zu Emmentaler
Kleinbauern: drei Kühe, etwas Gemüse, abgelegen, «im Gjätt» draussen.
«Du chasch nüüt, du bisch nüüt, us dir gits nüüt.» Er habe noch heute
«einen Knacks davon». Wenn man das zwölf Jahre lang höre, jeden Tag,
dann glaube man das.
Auch Hugo Zingg hats geglaubt. Er setzt sich deshalb noch heute immer
ganz nach hinten, wenn er einen Raum betritt: «Wer bist du denn schon?»
Deshalb habe er wohl nie tanzen gelernt, er sei immer nur am Rand
gestanden, als Zuschauer, habe sich nie dazugehörig gefühlt. «Ich
musste mich immer ducken.» Erst kürzlich habe ihm eine langjährige
Bekannte gestanden: Er, Hugo sei immer anders gewesen. Habe zum
Beispiel nie gelacht. Und wenn er jetzt von seiner Verdingzeit spreche,
öffne er «einen Schaft, den ich 30 Jahre lang nicht mehr geöffnet
habe».
1943 kam er als Fünfjähriger auf einen Bauernhof. Wie seine sechs
Geschwister. Er landete im Berner Gürbetal. Für zehn Jahre. «Wir sind
weitergereicht worden wie ein Stück Holz ab der Fräse.» Seine
Pflegemutter war ein «Satan», ja schlimmer noch: «Lieber den Teufel als
die», sagt er heute. Sie hat ihn, Hugo, mit dem Lederriemen erzogen.
Ihren Namen mag er nicht aussprechen, er redet nur von «der da».
Mehrmals pro Woche habe er auf den Ranzen bekommen. Zeit für
Schulaufgaben hatte er keine, er musste immer chrampfen.
Mit dem Karabiner erschossen
Da war noch ein zweites Verdingkind auf dem Hof, «der Zwahlen Fritz».
Zingg zeigt ein Foto von ihm: athletische Figur, Oberarme wie ein
Gewichtheber, grimmiges Gesicht. Er hat sich mit 21 in der Nähe des
Hofs mit dem Karabiner erschossen. Fritz’ Köfferli hat Hugo Zingg
aufbewahrt. Wenn es ihm schlecht geht, nimmt er es hervor und sagt
sich: «Nein, mir soll es nicht so wie dir ergehen, Fritz.» Heute
bewahrt er darin Zeitungsberichte von Katastrophen und Unglücksfällen
auf.
Erst als er längst erwachsen war, hat er sich auf die Suche nach seinen
Wurzeln gemacht. Seine Mutter wohnte in einer Berner Stadtwohnung. Als
er an der Tür klingelte, fragte sie: «Was weit dir?» Dann erkannte sie
ihren Sohn Hugo und weinte. Hugo Zingg konnte aber mit seiner Mutter
nicht viel anfangen. Das war also die Frau, die ihn geboren hatte. Er
fand keinen Draht zu ihr, nicht einmal ein Drähtchen. Der Begriff
«Mutter» war für ihn etwas Abstraktes geworden.
Er erinnert sich, dass sein Amtsvormund einmal im Jahr auf Voranmeldung
vorbeigekommen sei. Mit ihm, Hugo, dem eigentlichen Anlass des Besuchs,
habe der Vormund nie gesprochen. Mit dem Bauern, der ihn in der Stube
mit Wein und Berner Platte verköstigt habe, hingegen schon. Zur
Konfirmationsfeier 1952 schenkte ihm der Vormund ein Büchlein mit dem
Titel: «Lerne leben». Dazu schrieb er in sauberer Tintenschrift die
mahnenden Worte: Hugo werde nun erwachsen, müsse selber wissen, was zu
tun sei, «auch wenn kein Meister und Aufseher dasteht und mit der
Peitsche knallt». Er solle nicht vergessen, seinen Pflegeeltern für
alles zu danken. «Entweder war er naiv oder ein Heuchler», kommentiert
Zingg.
Er ist nicht verbittert, hat durchs Leben gefunden. Er will aber, dass
man vom Elend der Verdingkinder endlich erfährt. Als grösstes Handicap
bezeichnet er die Tatsache, dass er keine Lehre machen durfte. Er sagt:
«Die Behörde hat die Kinder verteilt, sie hat damit ein Verbrechen
begangen.» Und «alle, Lehrer und Nachbarn, schauten weg und haben
geschwiegen. Ich möchte, dass die amtliche Schweiz zugibt, dass das
eine Schande war, was da passiert ist.»
«Ohne Schläge geht es nicht»
Doris Gasser, 64, war anderthalb Jahre «bim Puur», wie sie sich
ausdrückt. Seit 40 Jahren lebt sie in Genf, vielleicht nicht ganz
zufällig, möglichst weit weg von diesem Keller in der Ostschweiz, in
den sie oft eingesperrt war. Sie hat Akten über sich bei der
Fürsorgebehörde gefunden. Sie hatte Glück im Unglück, denn jemand hatte
damals Anzeige erstattet, weil die Pflegeeltern sie so offensichtlich
grob behandelten. Die Behörde inspizierte auf die Anzeige hin die
Pflegeeltern, auch weil diese mehr Kostgeld verlangten.
Im Bericht gibt die Pflegemutter G. zu, dass ihr Mann Doris «vor
einiger Zeit energisch mit Schlägen strafte und das Kind ins
Schlafzimmer hineinstiess, wobei es unglücklicherweise zu Boden fiel
und die Stirn am Türpfosten verletzte, so dass ein blaues Mal entstand,
welches tags darauf vom Vater des Kindes anlässlich eines Besuches in
Schaffhausen bemerkt wurde». Frau G. machte geltend, «dass es in jeder
andern Familie bei der Erziehung schwieriger Kinder auch nicht ohne
Schläge abgeht».
Die Pflegemutter war um brutale Erziehungsmassnahmen nicht verlegen.
Was «die Geschichte mit der heissen Kartoffel» anbetreffe, heisst es im
Bericht weiter, stimme es, dass Frau G. Doris vor längerer Zeit eine
heisse Kartoffel in die Hand gegeben habe, und zwar lediglich, «um das
Kind endlich von seiner üblen Gewohnheit, in alle Töpfe zu schauen, zu
heilen». Immerhin hatte die Pflegemutter offenbar ein schlechtes
Gewissen, denn, so hält es das Protokoll fest, Frau G. äusserte
«eigenartigerweise schon am Anfang unserer Unterredung, dass es ihr
lieber sei, wenn man das Kind wegnehme, falls die Behörde der Ansicht
sei, dass Doris nicht richtig aufgehoben sei».
Einen Monat später, im August 1945, wird Doris in eine Schaffhauser
Arbeiterfamilie umplatziert. Doch auch dort bleibt sie nicht lange. Mit
fünf landet sie im Heim. Das war noch schlimmer: «Das Institutspersonal
war durch und durch bigott.» Sie hat sich später als selbstständige
Damenschneiderin durchs Leben gebracht und eine Familie gegründet. Sie
freut sich auf den Kongress, viele würden nun merken: «Ich bin ja gar
nicht allein.»
Vor den eigenen Kindern verheimlicht
Die vier Schwestern Hartmann treffen sich eigens für den Beobachter, um
über ihre Zeit als Verdingkinder zu sprechen. Sie wuchsen nach der
Trennung ihrer Eltern im Kinderheim auf und wurden später auf
Bauernhöfen platziert. Selbst ihren eigenen Familien haben sie bisher
nur das Allernötigste erzählt. Theresia Hartmann, 68, hat ihren Kindern
gegenüber bisher nur erwähnt, dass sie im Heim und auf dem Bauernhof
war. Die Schläge in der Besserungs- und Erziehungsanstalt St. Benedikt
im aargauischen Hermetschwil, damals von Benediktinerinnen geführt, hat
sie bis heute für sich behalten. Beatrice wurde als 14 Tage altes Baby
in ein Heim bei Baden weggegeben, mit vier kam sie auf einen Bauernhof.
«Meine Pflegeeltern sagten mir nie, dass sie nicht meine richtigen
Eltern waren. Als ich die Wahrheit erfuhr, brach für mich eine Welt
zusammen.» Lange hat man ihr vorenthalten, dass sie Geschwister hatte.
Erst mit 30 Jahren lernte sie alle ihre Schwestern kennen.
Heidi, mit 71 die Älteste, kannte die Eltern und behielt die verteilten
Geschwister im Auge. Sie wurde mit elf zum ersten Mal auf einen Hof
verdingt, es sollten noch mehrere andere folgen. «Im Sommer musste ich
von morgens um vier bis nachts um zehn arbeiten. Grasen, abladen,
Zmorge, mit Hund und Karren in die Milchhütte, dann umziehen und in die
Schule. Nach der Schule aufs Feld oder Hausarbeit.»
Die vier Schwestern fragen sich heute: «Warum wurden wir schlechter
behandelt als die leiblichen Kinder der Bauern?» Rita ist wütend: «Uns
ist Unrecht passiert. Jeden Vormund könnte ich ins Pfefferland
wünschen. Die Gemeindebehörden haben uns regelrecht abgeschoben.» Heidi
fügt an: «Mit Geld kann man dieses Unrecht nicht wiedergutmachen.» Die
Schwestern möchten, dass in künftigen Schulbüchern auch ein Kapitel
über Verdingkinder zu finden ist. «Nicht dass die Leute sagen können,
das ist gar nicht wahr. Die Jungen können gar nicht glauben, was da mit
uns alles passiert ist.»
Nelly Haueter, 79, hat bis heute keine Ahnung, warum sie weggegeben
wurde. Als sie an einem kalten Februarmorgen im Jahr 1932 in der Schule
von einem Mann und einer Frau mit einem schwarzen Auto abgeholt wird,
weiss sie noch nicht, dass sie ihre Mutter nur noch einmal im Leben
sehen wird: 19 Jahre später an deren Sterbebett. Dass sie neben ihrem
kleinen Bruder noch neun weitere Geschwister hat, weiss sie nicht. Die
Familie wurde schon Jahre zuvor einmal auseinander gerissen.
Ihr Pflegevater sei «ein fertiger Sauhund» gewesen. Er schlug sie
jeweils mit dem Lederriemen oder mit einem Seil. Nelly war an den
Handgelenken gefesselt, manchmal war sie nackt. «Der hat mir das ganze
Leben verbaut, wenn man es richtig nimmt.» Lehrer und Pfarrer wussten,
«dass ich die Hölle erlebte». Auf dem Notizzettel, den sie fürs
Gespräch vorbereitet hat, hat sie gross das Wort SKLAVENTREIBER
notiert, damit sie es ja nicht vergisst. Das Minderwertigkeitsgefühl
vermochte sie bis heute nicht abzuschütteln. Sie nimmt ein Klassenfoto
von 1936 hervor, hakt mit dem Finger die Schulkameraden ab, und als die
Reihe an sie kommt, sagt sie: «Und do chunt dr Verdingtschumpel.»
«Verdingkinder suchen ihre Spur»
Kongress: 28. November 2004, 9.30 bis zirka 16.30 Uhr; «Novotel» Glattbrugg;
Eintritt 45 Franken (Mittagessen inbegriffen); Gratis-Bus ab Bahnhof
Zürich Flughafen.
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Kastentext 1 zum selben Thema in der gleichen Nummer des Beobachters:
Amtlich bewilligt
Kinder auf dem Sklavenmarkt
Wie Vieh wurden solche Kinder noch um 1900 auf öffentlichen Märkten
versteigert. 1930 gab es in der Schweiz fast 40000 Pflegekinder in
Familien, 19000 Kinder waren zudem in Heimen untergebracht, schreibt
der Historiker Marco Leuenberger in seiner Lizenziatsarbeit über
Verdingkinder. Es ist eine der wenigen historischen Studien zum Thema.
Wie eine Art modernes Temporärbüro funktionierte damals die
Armenbehörde – mit dem Unterschied, dass Minderjährige vermittelt
wurden, die noch dazu nichts verdienten: «Infolge des saisonal
schwankenden Arbeitskräftebedarfs konnte ein Bauer jederzeit ein
Verdingkind anfordern und bei ‹Nichtgefallen› oder ‹Nichtgebrauch›
zurückgeben oder eintauschen», schreibt Leuenberger.
Ausbeutung, Schläge und sexueller Missbrauch waren nicht selten. Auch
nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch viele Verdingkinder, allein im
Kanton Bern waren es 1946 noch 10000, wie der Beobachter damals vom
Berner Armeninspektor erfuhr. Erst seit 1978 gibt es eine schweizweite
Regelung für Pflegekinder.
Für Betroffene ist es oft ein Spiessrutenlauf, wenn sie ihre Geschichte
erforschen und allenfalls noch vorhandene Akten beschaffen wollen. Die
ehemaligen Verdingkinder, heute oft hochbetagte Menschen, sollten sich
aber nicht abschrecken lassen und bei Vormundschafts- und
Fürsorgebehörden nachfragen – auch bei der Gemeinde, wo man verdingt
war. Mit etwas Glück lassen sich noch Dokumente finden. In Bern
allerdings wurden entsprechende Akten in den siebziger Jahren
verbrannt.
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Kastentext 2 zum selben Thema in der gleichen Nummer des Beobachters:
Appell ans Volk
Die Beobachter-Aktion von 1946
Ein fünfeinhalb Jahre alter Verdingbub war zu Tode gequält worden, der ganze Körper war mit Striemen übersät. Der Bub wog noch 13 Kilogramm. «Das Vertrauen des Volkes in die Aufsichtsbehörden ist erschüttert», schrieb der Beobachter damals. Es gebe Behörden, die «aus Sparsamkeitsgründen oft nicht eben wählerisch sind mit den Pflegeplätzen». Und er kritisierte, dass Gemeinden die Kinder oft aus Spargründen verdingten; das sei billiger, als der Mutter einen angemessenen Betrag auszurichten, damit sie ihre Kinder selber erziehen könne.
Um der Misere im Pflegekinderwesen ein Ende zu bereiten, rief der Beobachter 1946 zur Selbsthilfe auf: «Das Volk soll mithelfen!» Wer ehrenamtlich einer «Vereinigung zum Schutz der Pflegekinder» beitreten wolle, solle sich melden. 2000 Interessierte meldeten sich. Der Redaktor schrieb darauf enttäuscht: «Vor Jahren sind auf einen Wettbewerb im Beobachter, bei dem die Preise in Ankenballen bestanden, um die 50000 Anmeldungen eingegangen.» – «Ja, wenn wieder ein Fall an die Öffentlichkeit gelangt, wie der von Frutigen, dann sind es Hunderttausende von Frauen und Männern, die entrüstet fordern, dass da etwas geschehen müsse.» Der Appell des Redaktors nützte: Es meldeten sich schliesslich 5000 Freiwillige.
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