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Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» mit Sitz in Münchwilen
«Wir haben ein Recht auf die Wahrheit»
Heidi Meichtry ist die Präsidentin des Vereins «Verdingkinder suchen ihre Spur».
Verdingkinder
wurden früher grausam unterdrückt, misshandelt und schikaniert. Auch
heute noch kämpfen die Opfer um ihr Recht und werden noch nicht ernst
genug genommen. Akten werden vorenthalten und viele Türen bleiben ihnen
verschlossen. Vor gut einem Jahr wurde der Verein «Verdingkinder suchen
ihre Spur» gegründet. Die Geschäftsstelle und der Sitz der Präsidentin
Heidi Meichtry befindet sich in Münchwilen.
Vor ein bis zwei Jahren meldeten sich erstmals Verdingkinder öffentlich
in verschiedenen Medien zu Wort und ein bis dahin tabuisiertes Thema
wurde zur Sprache gebracht. Die Sirnacher Lotty Wohlwend und Renato
Müller drehten den Film «Turi», der das Schicksaal des Verdingkindes
Arthur Honegger dokumentierte und für Aufruhr sorgte.
Fragen verlangen Antworten
Viele Fragen ehemaliger Verdingkinder brennen noch immer auf der Seele.
Viele haben Angst, dass die offizielle Politik erneut wegschaut.
Historiker haben begonnen, das düstere Kapitel der Vergangenheit
aufzuarbeiten. Doch sie stossen unweigerlich an ihre Grenzen, müssten
doch dazu die Archive der Behörden zugänglich gemacht werden. Dies
bedarf aber dem politischen Willen der Kantone und des Bundes. Leider
prallen die Betroffenen an dieser Stelle ab und sogar die Einsicht in
ihre eigenen Akten bleibt ihnen verwehrt. Wegschauen, nichts wissen
wollen, so tun, als ob nichts geschehen ist. So tritt ihnen die
offizielle Schweiz entgegen. Der Verein wehrt sich nun gegen diese
Ungerechtigkeit.
Nachfahren Verdingkinder
Heidi Meichtry ist es wichtig, nicht nur auf die Verdingkinder, sondern
auch auf deren Nachfahren aufmerksam zu machen. Meist wurden diese mit
dem gleichen oder ähnlichen Erziehungsmuster grossgezogen, was
schmerzhafte Spuren hinterliess. So war auch der Vater von Heidi
Meichtry ein Verdingkind, und sie erfuhr körperliche- und psychische
Misshandlungen. «Ich habe gesehen wie mein Vater unter seiner
Vergangenheit gelitten hat. So wurden viele erlebte
«Erziehungsmassnahmen» auf uns übertragen», erklärt Heidi Meichtry. Ihr
ist es darum wichtig, dass sich nebst dem Verein auch Selbstgruppen
bilden, wo sich Betroffene austauschen können.
Mit Zuschriften überhäuft
Heidi Meichtry ist eine starke Frau. Trotz ihrer schweren Kindheit hat
sie ihren Weg gefunden und war bis zu ihrer Pensionierung als Berufs-
und Laufbahnenberaterin tätig. «Wir waren sechs Frauen, als wir uns am
23. März 2004 das erste Mal trafen und beschlossen eine
Selbsthilfegruppe von ehemaligen Verdingkindern und Nachfahren zu
gründen», schildert die Münchwilerin. «Nachdem in den Medien über
unseren Zusammenschluss berichtet wurde, trafen hunderte von Briefen
und erschütternde Telefonanrufe bei den Historikern, dem SF DRS und bei
uns ein. Uns war danach sofort klar, dass es mit einer
Selbsthilfegruppe nicht getan ist und entschlossen uns zur
Vereinsgründung».
Kleine Sklaven
An
unzähligen Arbeitsplätzen schufteten Kinder wie Erwachsene -
herausgerissen aus Familien, ohne Lohn, Anerkennung und bei schlechter
Verpflegung wie kleine Sklaven. Ihre Arbeit diente nicht dem
allgemeinen Wohlstand, höchsten dem Profit einiger Weniger. Die meisten
der ehemaligen Verdingkinder wissen von vernichtendem Spott und
Erniedrigung aller Art zu berichten, von grausamen Körperstrafen,
brutalen Misshandlungen und oft auch von sexuellen Übergriffen. Eine
angemessene Schul- und Berufsbildung wurde den meisten vorenthalten.
Dieses Verhalten produzierte Kriminelle, Suchtopfer, Waisen, Kranke und
körperlich oder psychisch behinderte Menschen. Viele Opfer sahen schon
in jüngsten Jahren nur im Suizid Erlösung. Unter den Folgen des
erlittenen Unrechts leiden noch heute Betroffene, Hinterbliebene und
indirekt die ganze Gesellschaft. «Ich habe schon mit Menschen
gesprochen, die mir gestanden haben, dass sie jetzt im Verein zum
ersten mal über ihr Erlebtes sprechen, da sie ihre Vergangenheit aus
Scham vor der Familie verheimlicht haben», erklärt Heidi Meichtry
nachdenklich.
Aufarbeitung Vergangenheit
Der Verein widmet sich der Öffentlichkeitsarbeit, Arbeit mit Behörden,
Lehrkräften und Medien, dem Aufbau eines Sekretariates und der
Vermittlung von Rechtsberatung und Rechtshilfe. «Leider können auch wir
keine Wunder erfüllen. Wir können die Betroffenen beraten, unterstützen
und an die richtigen Stellen weiterleiten. Seien dies Rechtstellen oder
Psychologische Dienstleistungen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit,
liegt aber bei den Betroffenen selbst, dazu reichen unsere Kapazitäten
nicht aus».
Erforschung dunkles Kapitel
Im Weiteren macht sich der Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» auch
für den schweizweiten Zusammenschluss der Betroffenen stark, unstützt
die Gründung von Selbsthilfegruppen und möchte die politische Kraft
aufbauen die helfen kann, die Erforschung dieses dunklen Kapitels der
Schweizer Geschichte zu finanzieren. Auch die historischen Hintergründe
des Verdingkinderwesens sollen beleuchtet werden. Dazu wurde bereits im
November vergangenen Jahres eine Fachtagung realisiert, die auf
riesiges Interesse stiess.
Oliver Twist im Cinewil
Der Verein finanziert sich durch Mitgliederbeiträge und Spenden.
Dennoch reichen die bisherigen Mittel kaum aus und der Verein ist
laufend auf Mitglieder und Mitarbeitersuche.
(www.verdingkinder-suchen-ihre-spur.ch).
Heute, Donnerstag, startet im
Cinewil der Film «Oliver Twist». Der Verein wird vor Ort
Informationsprospekte auflegen. Denn auch Oliver Twist ist ein
Heimkind, dessen Schicksal sich an das der Verdingkinder anlehnt.
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