Regionalgruppen Dokumente Literatur Links

Dokumente zur Thematik Verdingkinder, Heimkinder, Pflegekinder, Fremdplatzierung, Kindswegnahmen, Erziehungsanstalten

Artikel aus den Wiler Nachrichten vom 19.Januar 2006:

<font face="Arial"> Wiler Nachrichten</font> – Region – «Wir haben ein Recht auf die Wahrheit»

Wiler Nachrichten


Region
Nr. 03 – 19.01.2006
Artikel:

Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» mit Sitz in Münchwilen

«Wir haben ein Recht auf die Wahrheit»


Heidi Meichtry ist die Präsidentin des Vereins «Verdingkinder suchen ihre Spur».

Verdingkinder wurden früher grausam unterdrückt, misshandelt und schikaniert. Auch heute noch kämpfen die Opfer um ihr Recht und werden noch nicht ernst genug genommen. Akten werden vorenthalten und viele Türen bleiben ihnen verschlossen. Vor gut einem Jahr wurde der Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» gegründet. Die Geschäftsstelle und der Sitz der Präsidentin Heidi Meichtry befindet sich in Münchwilen.

Vor ein bis zwei Jahren meldeten sich erstmals Verdingkinder öffentlich in verschiedenen Medien zu Wort und ein bis dahin tabuisiertes Thema wurde zur Sprache gebracht. Die Sirnacher Lotty Wohlwend und Renato Müller drehten den Film «Turi», der das Schicksaal des Verdingkindes Arthur Honegger dokumentierte und für Aufruhr sorgte.

Fragen verlangen Antworten

Viele Fragen ehemaliger Verdingkinder brennen noch immer auf der Seele. Viele haben Angst, dass die offizielle Politik erneut wegschaut. Historiker haben begonnen, das düstere Kapitel der Vergangenheit aufzuarbeiten. Doch sie stossen unweigerlich an ihre Grenzen, müssten doch dazu die Archive der Behörden zugänglich gemacht werden. Dies bedarf aber dem politischen Willen der Kantone und des Bundes. Leider prallen die Betroffenen an dieser Stelle ab und sogar die Einsicht in ihre eigenen Akten bleibt ihnen verwehrt. Wegschauen, nichts wissen wollen, so tun, als ob nichts geschehen ist. So tritt ihnen die offizielle Schweiz entgegen. Der Verein wehrt sich nun gegen diese Ungerechtigkeit.

Nachfahren Verdingkinder

Heidi Meichtry ist es wichtig, nicht nur auf die Verdingkinder, sondern auch auf deren Nachfahren aufmerksam zu machen. Meist wurden diese mit dem gleichen oder ähnlichen Erziehungsmuster grossgezogen, was schmerzhafte Spuren hinterliess. So war auch der Vater von Heidi Meichtry ein Verdingkind, und sie erfuhr körperliche- und psychische Misshandlungen. «Ich habe gesehen wie mein Vater unter seiner Vergangenheit gelitten hat. So wurden viele erlebte «Erziehungsmassnahmen» auf uns übertragen», erklärt Heidi Meichtry. Ihr ist es darum wichtig, dass sich nebst dem Verein auch Selbstgruppen bilden, wo sich Betroffene austauschen können.

Mit Zuschriften überhäuft

Heidi Meichtry ist eine starke Frau. Trotz ihrer schweren Kindheit hat sie ihren Weg gefunden und war bis zu ihrer Pensionierung als Berufs- und Laufbahnenberaterin tätig. «Wir waren sechs Frauen, als wir uns am 23. März 2004 das erste Mal trafen und beschlossen eine Selbsthilfegruppe von ehemaligen Verdingkindern und Nachfahren zu gründen», schildert die Münchwilerin. «Nachdem in den Medien über unseren Zusammenschluss berichtet wurde, trafen hunderte von Briefen und erschütternde Telefonanrufe bei den Historikern, dem SF DRS und bei uns ein. Uns war danach sofort klar, dass es mit einer Selbsthilfegruppe nicht getan ist und entschlossen uns zur Vereinsgründung».

Kleine Sklaven

An unzähligen Arbeitsplätzen schufteten Kinder wie Erwachsene - herausgerissen aus Familien, ohne Lohn, Anerkennung und bei schlechter Verpflegung wie kleine Sklaven. Ihre Arbeit diente nicht dem allgemeinen Wohlstand, höchsten dem Profit einiger Weniger. Die meisten der ehemaligen Verdingkinder wissen von vernichtendem Spott und Erniedrigung aller Art zu berichten, von grausamen Körperstrafen, brutalen Misshandlungen und oft auch von sexuellen Übergriffen. Eine angemessene Schul- und Berufsbildung wurde den meisten vorenthalten. Dieses Verhalten produzierte Kriminelle, Suchtopfer, Waisen, Kranke und körperlich oder psychisch behinderte Menschen. Viele Opfer sahen schon in jüngsten Jahren nur im Suizid Erlösung. Unter den Folgen des erlittenen Unrechts leiden noch heute Betroffene, Hinterbliebene und indirekt die ganze Gesellschaft. «Ich habe schon mit Menschen gesprochen, die mir gestanden haben, dass sie jetzt im Verein zum ersten mal über ihr Erlebtes sprechen, da sie ihre Vergangenheit aus Scham vor der Familie verheimlicht haben», erklärt Heidi Meichtry nachdenklich.

Aufarbeitung Vergangenheit

Der Verein widmet sich der Öffentlichkeitsarbeit, Arbeit mit Behörden, Lehrkräften und Medien, dem Aufbau eines Sekretariates und der Vermittlung von Rechtsberatung und Rechtshilfe. «Leider können auch wir keine Wunder erfüllen. Wir können die Betroffenen beraten, unterstützen und an die richtigen Stellen weiterleiten. Seien dies Rechtstellen oder Psychologische Dienstleistungen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, liegt aber bei den Betroffenen selbst, dazu reichen unsere Kapazitäten nicht aus».

Erforschung dunkles Kapitel

Im Weiteren macht sich der Verein «Verdingkinder suchen ihre Spur» auch für den schweizweiten Zusammenschluss der Betroffenen stark, unstützt die Gründung von Selbsthilfegruppen und möchte die politische Kraft aufbauen die helfen kann, die Erforschung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte zu finanzieren. Auch die historischen Hintergründe des Verdingkinderwesens sollen beleuchtet werden. Dazu wurde bereits im November vergangenen Jahres eine Fachtagung realisiert, die auf riesiges Interesse stiess.

Oliver Twist im Cinewil

Der Verein finanziert sich durch Mitgliederbeiträge und Spenden. Dennoch reichen die bisherigen Mittel kaum aus und der Verein ist laufend auf Mitglieder und Mitarbeitersuche. (www.verdingkinder-suchen-ihre-spur.ch). Heute, Donnerstag, startet im Cinewil der Film «Oliver Twist». Der Verein wird vor Ort Informationsprospekte auflegen. Denn auch Oliver Twist ist ein Heimkind, dessen Schicksal sich an das der Verdingkinder anlehnt.

Petra Walter